Der freilebende Stammvater des Kanarienvogels
Der Kanarienvogel ist in seinen uns bekannten Formen nicht in der freien Wildbahn heimisch. Als das Ergebnis einer jahrhundertelangen Domestikation trägt er deshalb auch keinen eigenständigen wissenschaftlichen Namen. Sein Stammvater, der Kanarengirlitz, ist bereits von Carl von Linnée in das zoologische System eingereiht worden und erhielt den Namen Serinus canaria (Linnée, 1758). Die hieraus entwickelte domestizierte Form trägt (siehe Herre & Röhrs, 1990) den Zusatz forma domestica. Das macht deutlich, daß der Kanarienvogel und der Kanarengirlitz derselben biologischen Art angehören.
Die Heimat des Kanarengirlitzes sind die fünf westlichen Kanarischen Inseln (Teneriffa, Gran Canaria, La Gomera, La Palma, Hierro), Madeira und die Azoren. Dort lebt er in fast allen Biotopen, vorausgesetzt, es gibt genügend Wasser. Diese Inseln liegen alle sehr nahe am Nördlichen Wendekreis, sind aber vom kalten Golfstrom umflossen. Daher ist das Klima trotz der äquatornahen Lage sehr ausgeglichen. Die Temperaturen gehen nie unter Null, dafür aber sind die Sommer auch weniger heiß. Die Tageslänge schwankt etwa zwischen 11 und 13 Stunden.
Sein Aussehen ähnelt der grünen Zuchtform: Stirnstreif, Augengegend, Kopfseiten und Nackenstreif sind lebhaft grün. Die girlitztypische Kopfzeichnung (Augenstreif, Bartstreif, Wangenfleck) ist deutlich ausgeprägt. Der Scheitel ist gelbgrün mit schwärzlichen Schaftstrichen. Schultern und Oberrücken sind olivgrün mit bräunlichem Anflug. Die Schaftstriche setzen sich oberseits bis zum Bürzel fort. Der Bürzel und die oberen Schwanzdecken sind gelbgrün. Die Schwingen und die Schanzfedern sind schwarz mit bräunlichem Rand, die Handschwingen und die äußeren Schanzfedern sind an den Außenkanten gelblich. Die Unterseite ich grünlich gelb, die Flanken besitzen schwarzgraue Längsstrichelung. Kloakengegend und Unterschwanzdecken sind weißlich, teilweise gelblich überhaucht. Die Augen sind braun. Der Oberschnabel ist bräunlichfleischfarben und zur Schnabelspitze hin schwärzlich, der Unterschnabel ist gelblichhorngrau. Die Beine und Füße sind bräunlich bis anthrazit, die Krallen etwas dunkler.
Das Weibchen ist deutlich zu unterscheiden: Die Gelbanteile sind stark zurückgedrängt, bei einigen Exemplaren sind nur Augenstreif, Flügelbug, Bürzel und kleiner Brustfleck gelblich überhaucht. Die Oberseite ist stärker braun durchsetzt.
Besonders der graue Überhauch läßt eine sichere Abgrenzung des Kanarengirlitzes gegen die grüne Zuchtform zu (Mau, 1994).
Die Körpergröße beträgt ca. 13,5 cm. Die Flügel messen beim Männchen 71-76 mm, beim Weibchen 67-70 mm (Hartert, 1903), der Schwanz mißt 56 mm. Die Schnabellänge beträgt 7-8,5 mm (Bannermann, 1963), die Länge des Laufes 16-19 mm (Ruß, 1926).
In seiner Heimat beginnt der Kanarengirlitz je nach Höhenlage zwischen Januar und April mit der ersten Brut. In den tieferen Lagen kann er 2 bis 3 Bruten erfolgreich abschließen, in den oberen Lagen reicht die Zeit oft nur für eine Brut. Das napfförmige Nest wird außen aus kleinen Zweigen und Wurzeln gebaut, innen mit feineren Materialien wie Wolle und Federn ausgepolstert. Es werden 4-5 blaßmeergrüne Eier gelegt, die rötlich-braune Flecken und Kritzeln zeigen. Nach 13 Tagen Brutzeit schlüpfen die mit hellem Flaum bedeckten Jungvögel. Nach weiteren 14 Tagen verlassen sie das Nest.
Die nächstverwandten Arten des Kanarengirlitzes sind die weiteren Arten der Gattung Serinus: Europäischer Girlitz (S. serinus), Zederngirlitz (S. syriacus), Zitronengirlitz (S. citrinella), Rotstirngirlitz (S. pusillus), Gelbscheitelgirlitz (S. canicollis), Schwarzkopfgirlitz (S. nigriceps), Malaiengirlitz (S. estherae) und Mindanaogirlitz (S. mindanensis). Die Gattung ist über weite Teile von Nordwest-Europa über das Mittelmeergebiet bis Südafrika und ostwärts bis zu den Philippinen verbreitet. Besonders nahe verwandt mit dem Kanarengirlitz sind der
Europäische Girlitz, der Zederngirlitz, der Zitronengirlitz und der Gelbscheitelgirlitz. Fast alle Arten mit Ausnahme unseres einheimischen Girlitzes haben einen sehr wohlklingenden und modulationsreichen Gesang.
Die nächstverwandte Gruppe zur Gattung Serinus ist die Gattung Alario, die nur den Alariogirlitz als einzigen Vertreter enthält. Die anderen Vogelarten, die ebenfalls im Deutschen den Namen Girlitz tragen, sind, wenn auch weitläufiger, ebenfalls mit der Gattung Serinus verwandt. Alle Girlitze zusammen gehören mit den Zeisigen, den Hänflingsartigen, den Gimpeln, Karmingimpeln, Grünlingen, Kernbeißern und Kreuzschnäbeln zur Familie Carduelidae, die insgesamt 130 Arten umfaßt. Diese Familie ist über weite Teile der Erde, mit Ausnahme von Australien beheimatet und dort in den unterschiedlichsten Biotopen zu finden.
Von allen Arten hat anscheinend nur der Kanarengirlitz den Menschen stärker interessiert, zumindest ist er der einzige, der domestiziert wurde.
Zur Domestikationsgeschichte des Kanarienvogels
Ob bereits die Ureinwohner der Kanaren den Kanarengirlitz als Käfigvogel pflegten, wird immer wieder diskutiert und von vielen Inselbewohnern auch kräftig bestätigt. Leider liegen keine gesicherten Kenntnisse vor, doch der auffallend schöne Gesang macht diese Annahme wahrscheinlich. Auch, daß bereits 1418 Madeira und 1431 die Azoren vom Festland beherrscht wurden, der Kanarienvogel aber erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts nach Europa kam, spricht stark für diese Tatsache. Erst 1496 wurden die westlichen Kanaren von Spanien unterworfen. Deshalb ist 1496 als Datum für den Beginn der Domestikationsgeschichte des Kanarienvogels anzunehmen.
Konrad Gesner (1555) ist der erste, der den Kanarienvogel erwähnt. In seinem Buch beschreibt er ihn jedoch nur nach den Berichten anderer. Auch Aldrovandi (Ornithologiae libri XII, Bologna, 1599-1609) muß sich auf fremde Quellen verlassen, denn er selbst hat den Vogel nie gesehen. Erst Olina (Ucceleria, Rom 1622) gibt eine gute Beschreibung des grünen Kanarienvogels. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Kanarengirlitzes jedoch blieb Carl von Linnée (= Linnaeus) überlassen. In seiner zehnten Auflage „Systema Naturae“ im Jahre 1758 findet der Kanarengirlitz auf Seite 181 seine Aufstellung, wenn auch noch unter der damaligen „Sammelgattung“ Fringilla.
In den Anfangsjahren wurden nur Frischfänge von den Kanaren nach Spanien gebracht und überwiegend von den höhergestellten Persönlichkeiten gepflegt, denn nur sie konnten sich die teuren Vögel leisten.
Auf Grund der starken Nachfrage begannen die Spanier schon im I6. Jahrhundert, den Kanarienvogel auf dem Festland zu züchten. Hier war es vor allem das Kloster in Cadiz, das Erfolge aufzuweisen hatte und den steigenden Bedarf an Sängern decken konnte. Über lange Zeit durften nur Männchen ins Ausland verkauft werden (s. Colerus in Hervieux 1758), damit das Monopol des Kanarienhandels lange in den Händen der Spanier verblieb.
Einigen Autoren zufolge (der Ursprung ist bei Olina, 1622, zu suchen) soll ein Schiff vor Elba gestrandet sein, das Kanarienmännchen an Bord hatte, die beim Schiffbruch freigelassen wurden. Sie verpaarten sich mit den Weibchen des auf Elba ansässigen Europäischen Girlitzes (Serinus serinus L.1766), dadurch wurde das Handelsmonopol der Spanier zerstört. Diese Annahme ist allerdings absurd. Wäre es tatsächlich so gewesen, wäre nicht der Kanarengirlitz, sondern der Europäische Girlitz der Stammvater aller Kanarienvögel. Durch das Fehlen jeglicher Kanarienweibchen wären immer wieder Rückkreuzungen auf den Europäischen Girlitz notwendig gewesen und die Erbanlagen des Kanarengirlitzes wären mit der Zeit verdrängt worden. Auch werden die Italiener nicht ein Schiffsunglück abgewartet haben, eher hätten sie den Europäischen Girlitz direkt domestiziert, was sie jedoch auf Grund seines unmelodischen Gesanges nicht taten.
Geschichte des Kanarienvogels
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